Proportionalität
Ivan IllichDas Gute, wie er es zu verstehen begann, ist das, was in einer gegebenen Situation einzigartig und unvergleichbar angemessen ist. Es besitzt einen bestimmten Maßstab, zeigt eine bestimmte Proportion. Es passt, und die Sinne können dies wahr-nehmen, genau so, wie sie wahrnehmen können, wenn etwas falsch klingt.
Werte sind dagegen eine universelle Währung ohne festen Ort oder innere Begrenzung. Sie ordnen und vergleichen anhand ihres Maßstabes alle Dinge nach ihrer Nützlichkeit oder ihrer relativen Knappheit.
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«Heute ist das Buch nicht mehr die Grundmetapher unseres Zeitalters; es mußte dem Bildschirm weichen.»
Hinweise dafür sah er überall um sich herum. Menschen verbrachten immer mehr Zeit in virtuellen, nicht verorteten Räumen. Worte verloren ihre Tiefe und wurden zu künstlichen Elementen in einem Kommunikationscode. Wissen wurde zunehmend in Diagrammen dargestellt – in Bildern, Icons und Kurven. Und der Text war nicht länger mit der Buchseite vertäut, sondern driftete im weiten Meer der Information. Er landete nicht nur in den geisterhaften Eingeweiden des Computers, sondern im genetischen Text, als dessen Diktat sich nun viele Menschen sehen, und in Myriaden von weiteren Codes – Identifizierungen, Strichcodes, Eingangscodes. Passwörtern und so weiter – die jetzt das Kommen und Gehen der Menschen registrieren und managen.
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Etwas früher erlebt die Mathematik eine ähnliche Veränderung. Das Gespür der alten Griechen für Geometrie war dem Gespür für Musik nicht unähnlich, das wir eben besprachen. Die analytische Geometrie, angeführt von Rene Descartes, löschte den Naturhintergrund, vor dem man die Figuren der Geometrie studiert hatte, und ersetzte ihn durch ein Netz von Koordinaten. In der Philosophie, wie schon gesagt, ist die Ethik nicht mehr die Wissenschaft des Guten, das durch sein proportionales Verhältnis zum Willen, seine Entsprechung erkannt worden war. Sie wird durch die Wissenschaft temperierter Werte ersetzt. Das Gute ist oder ist nicht – wie die reine Quinte in der Musik. Werte hingegen können mehr oder weniger sein. Sie setzen einen Nullpunkt voraus, von dem negative ebenso wie positive Werte ausgehen können. Die Ver-Wertung der Welt wird für das Denken fundamental.
Dieser Schwund der Proportionalität verweist auf die historische Einmaligkeit der Moderne, ihre Unvergleichbarkeit.
Die poetische, also schöpferische Eigenart des Daseins wurde ausradiert und vergessen, ein Feld ums andere: im Recht, in der Vorstellung von Gemeinwohl und gemeinschaftlichem Wohlstand, in der Verfassungslehre, in der Sittlichkeit, in der Vorstellung, dass die Gesellschaft auf einem Vertrag basiert, und natürlich in den Bereichen, über die wir bereits gesprochen haben. Im Zuge dieses Übergangs von einer Welt, die auf dem Erlebnis der Stimmigkeit basierte, der Angemessenheit, hin zu einer Welt, für die ich noch nicht einmal einen Namen weiß, einer Welt, in der die Worte ihre Konturen verloren haben, wird das ausgewaschen, was einmal common sense hieß. Common sense, Gemeinsinn nannte man früher den Sinn für das, was passt, was stimmt, was zueinander gehört. Mit seinem common sense wusste zum Beispiel der Arzt um die Grenzen dessen, was er tun konnte und sollte. Heute können wir uns eine Welt der Gegenstände, der Personen, der sozialen Konstellationen vorstellen, denen nichts entspricht. Eine Welt ohne Ursprung, eine Welt ohne Schoß, eine Welt, in der die «Grenze» eine Bedeutung hat, die man sich vor Newton und Leibniz nicht vorstellen konnte." Wenn man vormals über eine Grenze, einen Horizont, sprach, besagte das Wort, dass von einer Begrenzung die Rede war, die zu etwas jenseits Gelegenem hinüber führte. Eine Grenze ohne Jenseitiges, ein drüben-loses Hüben, ist etwas zutiefst Neues, etwas, das unser gesamtes alltägliches Tun prägt, und das uns so sehr unterscheidet von allen anderen Menschen, anderen Kulturen, Welten, Sprachen. Sogar unsere Poesie ist willkürlich.
Unsere Vorstellung von Geschwindigkeit ist ein weiteres Beispiel. Auch die Griechen konnten sich vorstellen, dass es etwas geben könnte, das schneller ist als ein Falke, das schnellste Ding, das sie kannten; aber sie hatten kein generelles Konzept von Geschwindigkeit als Meter pro Zeiteinheit, Kilometer pro Stunde. Als Galileo Galilei den Überresten der Florentiner Akademie dieses Konzept vorstellte oder es Kepler beschrieb, waren sich die Zeitgenossen dessen bewusst, welch gewaltsam willkürliches Verhältnis er damit schuf, das es vorher nicht gegeben hatte.
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In den Flüssen nördlich der Zukunft (2006)